Ich bin ein Arbeiterkind. Ein Uniabschluss war in meinen Lebenskarten nicht unbedingt im Blatt. Jetzt bin ich Universitätsrätin der Universität Wien, eine Art “Aufsichtsrat” der Universität. Wer das als Erfolgsstory für das Schulsystem in Österreich lesen will, irrt sich gewaltig.
Es war nicht ausgemacht, dass ich eines Tages eine Uni von innen sehen würde. Im Gegenteil. Ich war neun, als meine Volksschullehrerin zu mir sagte, für “jemand wie mich” sei das Gymnasium wahrscheinlich nichts. Sie müsse sich das für ihre Empfehlung noch gut anschauen.
Meine Begeisterung für Bücher, mein Wortschatz, meine ausgezeichneten Noten, nichts davon war wichtig. “Jemand wie ich” war das Kind einer Arbeiterfamilie. Ein Kind, die Nase ständig in einem Buch, aber ohne einen Schreibtisch zu Hause. Ein Zuhause mit vielen Geschwistern – und wenig Geld.
Meine Lehrerin war keine bösartige Frau. Sie sagte das ganz freundlich. Sie übernahm unsere Klasse erst in der letzten Stufe der Volksschule. Sie kannte mich also nicht so gut – und ausgerechnet zu der Zeit, verpasste ich auch ein paar entscheidende Wochen. Unsere Wohnung war ausgebrannt. Ein Kabelbrand, ausgelöst durch ewig nicht sanierte Leitungen. Meine Lehrerin dachte vielleicht, das Gymnasium wäre zu schwer für “jemanden wie mich”: Ich müsste es allein schaffen, für Nachhilfe reiche das Geld ja doch nicht. Sie meinte vielleicht, es wäre gut, wenn “jemand wie ich” rasch ein Lehrlingsgehalt nach Hause bringen würde. Vielleicht war sie auch sicher, dass “jemand wie ich” eben hingehört, wo er hineingeboren worden war und an diesem Platz durchaus zufrieden leben könne.
Erfolg wird in Österreich vererbt
Es ist gut belegt, dass der wichtigste Moment für das wirtschaftliche Vorankommen im Leben eines Menschen der Moment seiner Geburt ist.
Wer einkommensstarke Eltern hat, braucht sich vor wenig zu fürchten. Das Leben ist auf Schiene. Haben die Eltern studiert, schaffen 81 von 100 Akademikerkindern jedenfalls die Matura. Arbeiterkinder hingegen sind im Gymnasium eine Minderheit.
An Universitäten sind sie echte Raritäten. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten schließen 57 ein Masterstudium ab. Von 100 Arbeiterkindern schaffen das nur 7 Kinder. Professor oder Professorin wird praktisch niemand von ihnen. Bankdirektor:in auch nicht.
In kaum einem Land ist es so schwer, einen höheren Abschluss als die eigenen Eltern und damit verbunden auch ein höheres Einkommen zu erreichen. Es braucht fünf Generationen bis sich das Kind einer Familie der ärmsten 10 Prozent in die Mitte der Gesellschaft, also zum Durchschnittseinkommen, hochgearbeitet hat, wie eine Studie der OECD zeigt. Das entspricht 150 Jahren. Zum Vergleich: In Schweden sind es nur 3 Generationen.
Bildung als soziales Allheilmittel
In politischen Sonntagsreden soll das Mittel gegen soziale Ungleichheit immer Bildung sein. Das hört sich erstmal gut an, ist aber verlogen. Es verspricht den Aufstieg durch Leistung. Aber das Schulsystem ist dafür gebaut, dass alles erstmal so bleibt, wie es ist. Und wir uns bitte nicht darüber aufregen – nicht gegen die Gesellschaftsordnung rebellieren. Das Versprechen gibt ja Hoffnung und Ansporn. Strengt euch an, dann wird was aus euch. Was das Versprechen nicht gebracht hat: ein Ende der sozialen Ungleichheit. Sehr wenige haben viel. Sehr viele haben wenig.
Bildungspolitik kann keine Sozialpolitik ersetzen, die Ungleichheit wirksam bekämpft. Ohne eine solche bleibt Aufstieg durch Bildung aber die einzige Handlungsmöglichkeit für jemanden von unten.
Die entscheidende Empfehlung für die Schule
Mir war das mit neun Jahren völlig klar. Ich wusste, dass es nicht egal ist, in welche Schule ich wechsle. Mir hat keiner einen Vortrag über die Wichtigkeit von Bildung für meine Karrieremöglichkeiten gehalten. Ich wusste nicht einmal, dass es sowas wie die Universität überhaupt gibt. Aber ich wusste, wenn ich nicht bleiben will, wo ich bin, brauche ich einen Einserschnitt. Damals gab es in Simmering, wo ich herkomme, nur ein einziges Gymnasium. Ohne Einserschnitt war man praktisch chancenlos.
Die Entscheidung meiner Lehrerin, mich für das Gymnasium zu empfehlen, war auch deshalb so wichtig, weil sie endgültig war. Ich wusste bis zum letzten Schultag nicht, ob ich sie bekommen würde. Wie man entgegen ihrer Empfehlung an einen Schulplatz kommt, hätte meine Familie nicht herausgefunden. Das ist oben anders. Je weiter oben die Familie, desto irrelevanter ist es, was die Volksschullehrerin sagt. Da schreibt ein befreundeter Anwalt ein freundliches Schreiben. Man kennt wen, der wen kennt. Oder man zahlt eben die Nachhilfe, bis der Schnitt passt.
Ein Kind aus der Arbeiterschicht muss herausragend sein
Ein Kind der Arbeiterklasse muss schon überdurchschnittlich sein, damit es für das Gymnasium überhaupt in Betracht gezogen wird. Arbeiterkinder werden bei gleichen Fähigkeiten sehr viel seltener für ein Gymnasium empfohlen, als Kinder aus privilegierten Familien. Volksschullehrer:innen überlegen bei ihren Empfehlungen sehr gründlich – bewusst oder unbewusst – ob die Familie ihr Kind fördern kann. Sie überlegen, ob es das Gymnasium auch schafft. Und kommen dann eben oft zum Schluss, dass es sich wohl nur abquälen würde.
Und sie haben recht. Wir lagern in Österreich Schulbildung im großen Stil an die Eltern aus. Die wollen alle das Beste für ihr Kind. Aber je nach Klassenlage schaut das Beste eben anders aus. Während manche Kinder mit drei Jahren das erste Tablet geschenkt bekommen, teilen sich andere ihr Zimmer mit drei Geschwistern. Während die einen in den Sommerferien eine Sprachreise machen, sind die anderen froh, wenn das Ticket fürs Freibad das Familienbudget nicht sprengt. Während manche Kinder acht Nachhilfestunden in der Woche bezahlt bekommen, gehen die anderen acht Stunden samstags arbeiten, um die Schulsportwoche bezahlen zu können.
Schulsystem soll in Österreich alles ausgleichen
Vor unserem Schulsystem sind dann aber alle gleich. Dabei haben privilegierte Kinder einen handfesten Startvorteil, der kaum aufzuholen ist. Die Noten erzählen davon nichts. Im Gegenteil, sie verweisen Kinder auf ihren vermeintlich legitimen Platz: Du bist ein Gymnasiumskind. Du nicht. Du gehst später einmal auf die Uni. Du höchstwahrscheinlich nicht.
Das Schulsystem rechtfertigt und stützt auf diese Weise die ungleiche Struktur unserer Gesellschaft. In Sonntagsreden ist davon nie die Rede. Dafür wird aber so getan, als ob die Schule auf magische Weise ausgleichen könnte, was an unterschiedlichen Lebenschancen ausgeteilt worden ist.
Ungleiches behandeln wir später an der Uni ebenfalls gleich. Dass es mich nicht aus der Kurve trägt im Studium, das war bis zum Schluss nicht ausgemacht. Mir durfte kein Fehler passieren. Den konnte ich mir schlicht nicht leisten. Denn ohne ein Stipendium hätte ich nicht studieren können. Ein Stipendium bedeutet: Du musst dein Studium in Mindestzeit schaffen. Ein Semester zu verlieren, ist ein Privileg, das nicht alle Studierenden haben. Also saß ich zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter trotzdem in den Klausuren. Ein Stipendium bedeutet auch: Was liegt, das pickt. Ein bisschen Rumprobieren, sich finden, was ausprobieren, ist für Arbeiterkinder nicht vorgesehen. Mehr als ein Studienwechsel ist nicht erlaubt.
Klar, manche beißen sich durch. Später sind es dann ihre Aufsteigerbiografien, die beweisen sollen, dass es jede und jeder schaffen kann – wenn man sich nur genug anstrengt. Was nicht alles möglich ist, wenn man talentiert und fleißig ist. Unzählige Male ist mir meine Geschichte schon als Beweis für unser funktionierendes Bildungssystem unter die Nase gehalten worden.
Mein schickes Essen mit einem Vizekanzler
Der Vizekanzler, damals, tunkt sein mürbes Stück Rindfleisch vorsichtig in die Sauce. Er hat sich wie ein Kind eine weiße Stoffserviette in den Kragen gesteckt. Sie schützt sein Hemd mitsamt Monogramm. Er habe, so meinte er jovial, ja heute auch noch andere Termine, da müsse er vorsichtig sein.
Unser Tisch ist aufwändig gedeckt. Bis heute löst der Anblick eines solchen Tisches in mir einen kurzen Moment Schwere aus. Mich in so einer Situation zurecht zu finden, musste ich erst lernen. Von daheim habe ich das nicht mitbekommen. Wurde ich in ein teures Restaurant eingeladen, habe ich es betreten wie ein fremdes Land. Mit Argusaugen beobachtete ich die anderen Gäste. Ich lernte schnell. Ich weiß heute, wie man Wein kostet, wie man mit einem Gedeck umgeht, zu welcher Speisenfolge man Rotwein auswählt. Ich erkenne, in welcher Art Lokal der Kellner den Stuhl der Dame zurechtrückt.
Verhaltensweise lernen wie eine Fremdsprache
Das Wissen darüber habe ich mir angeeignet, wie die Vokabel einer Fremdsprache. Und wie jemand, der eine Fremdsprache exzellent erlernt hat und im Urlaub mit jemand Heimischem verwechselt wird, spürt man heimliche Freude und einen seltsamen Stolz. Meine Anpassung habe ich jahrelang perfektioniert. Niemand, der meine Geschichte nicht kennt, errät, wo ich herkomme.
Und doch braucht es manchmal eine Sekunde, manchmal zwei, bis ich mir dessen wieder sicher bin. Bis ich weiß: Ich kann das. Es ist alles gut.
Die Serviette so zu verwenden wie der Vizekanzler würde mir deshalb im Traum nicht einfallen.
“Wissen Sie, Frau Blaha, jemand wie Sie ist ja der beste Beweis dafür, dass unser Bildungssystem wunderbar funktioniert”, sagt er.
“Kinder aus Familien mit weniger Geld schaffen es in Österreich genauso an die Uni. Wenn sie wirklich gut sind. Und darum muss es ja gehen: die besten und gescheitesten sollen studieren können, ob arm oder reich.”
Mir bleibt mein Tafelspitz im Hals stecken. “Du weißt nichts über mich, meine Familie, meine Herkunft. Wie kommst du dazu, mich als Beweis für irgendwas zu verwenden?”, dachte ich. Gesagt habe ich es nicht.
„Sie sind doch das beste Beispiel“
Der deutsche Professor für Erziehungswissenschaft Aladin El-Mafaalani konnte sich ähnliches in einer Talkshow jüngst von Markus Lanz anhören. “Sie sind doch das beste Beispiel dafür. Wenn sich jemand anstrengt, in diesem Land, dann kann er was werden. Aus eigener Kraft.” Der Uniprofessor, dessen Eltern aus Syrien bereits in den 70er Jahren nach Deutschland eingewandert sind, lächelte leicht gequält.
Er selbst beschreibt sich nicht als Aufsteiger, El-Mafaalanis Eltern sind Akademiker:innen. Für sie war es völlig selbstverständlich, dass er studiert. Er sagt, er ist privilegiert aufgewachsen und belegt mit seiner Forschung, dass für den Bildungserfolg die Klassen- und Milieuzugehörigkeit wichtiger ist als der Migrationshintergrund. (Alles Details, die Lanz gar nicht interessieren. Wer Migrationsgeschichte hat, hat vor allem erst einmal die – und keine andere.)
Leistung reicht nicht
Die statistisch ganz wenigen, die, die es “nach oben” schaffen, hatten großes Glück. Ja. Glück. Diese paar wenigen sind überdurchschnittlich begabt, smart, unfassbar diszipliniert und willensstark. Natürlich. Aber all das sind viele andere Arbeiterkinder auch. Das reicht nicht, wenn das Glück fehlt. Eine beherzte Tante, die geholfen und Mut gemacht hat. Die wohlhabenden Eltern des Studienfreundes, die dir ein Praktikum gecheckt haben. Die eine engagierte Direktorin, die an dich geglaubt hat – und die Lehrerin doch überzeugt hat, dass ich ein Einserzeugnis für den Weg ins Gymnasium verdient habe. Alleine ist der Aufstieg nicht zu schaffen.
Es sind auch die unsichtbaren Dinge, die einen Aufstieg möglich machen. Von diesen müsste erzählen, wer es geschafft hat – und nicht von „Chancen“, die man bloß nutzen muss. Das ist ein Versprechen, das unsere Gesellschaft nicht hält.
Erfolgsgeschichten beweisen: Bildungssystem funktioniert nicht
Aber wenn ich davon erzähle, von dem Glück, das ich hatte, dann will die Moderatorin während einer Fernseh-Debatte von mir wissen, ob ich mich damit nicht wahnsinnig klein mache? Meine Leistung und Anstrengung verstecke?
Ich habe drei Schwestern und drei Brüder. Jeder und jede einzelne von ihnen ist genauso klug, genauso clever und genauso bemerkenswert, wie ich es bin. Aber nur ich hatte ausreichend Glück, um es im ersten Anlauf auf die Uni zu schaffen. Wenn meine Geschichte irgendwas sagt über unser Schulsystem, dann dass es eben nicht funktioniert.
Einzementierte Machtverhältnisse
Wer Geschichten wie meine zur “Erfolgsgeschichte” für das System umdeutet, nimmt all die Arbeit, all die Anstrengung, all den Schmerz und stabilisiert damit genau die Verhältnisse, an denen Menschen wie ich mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Weil wir scheitern sollen.
Wer meine Geschichte nutzt, um das System zu loben, der sagt damit eigentlich, dass die Machtverhältnisse so bleiben sollen, wie sie sind. Das sind die Verhältnisse, in denen es eben nicht jede:r schaffen kann.
Ausnahme-Erfolge sind zu wenig
Am deutlichsten zeigt sich das, wenn ein Arbeiterkind wie ich öffentlich erzählt, wo es herkommt. Die Autorin Lucy Fricke beschreibt die Erfahrung im Buch „Klasse und Kampf“ eindrücklich. Ein Arbeiterkind aus Simmering. Klo am Gang, nicht einmal für den Gemeindebau hat es gereicht. Dann sind viele erstaunt über meine Offenheit und ganz berührt von meiner Verwundbarkeit. Hätte ich zu erzählen, mein Papa ist leitender Angestellter, die Mama Beamtin, später habe ich Wirtschaftsrecht studiert. Niemand würde sich für meine Offenheit bedanken. So eine Geschichte ist doch ganz normal.
Dabei ist doch mein Hintergrund völlig normal. 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind armutsgefährdet. Eines von fünf Kindern wächst hier bei uns in Armut auf. Dass eine Kindheit wie meine so normal ist, das ist doch der Skandal. Das muss sich ändern. Aber so wie es ist, bin ich in Österreich eben keine Anomalie. Ich bin keine Ausnahme. Dass ich als Unirätin nach wie vor eine bin, sollte nicht länger die Regel sein.
Dieses Essay ist ursprünglich hier erschienen: Schulsystem: Aufstieg durch Bildung ist viel zu selten in Österreich (moment.at)